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Dienstag, 13. Dezember 2011

Möhrenmenschen

Eine besondere Spezies ist der Möhren- oder auch Apfelmensch.
Ich nenne sie so, weil Exemplare dieser Art zu jeder Mahlzeit eine rohe Möhre und / oder einen Apfel vertilgen müssen.

Mehrere von ihnen sind mir kürzlich während einer Zugfahrt begegnet. Das eine war ein Mann. Er hatte eine Frau und zwei wohlerzogene Kinder dabei. Die Frau sah ich nur von hinten, deswegen ich von ihr nicht viel berichten kann. Der Mann saß ihr - und mit ein paar Reihen Abstand auch mir - gegenüber. Er hat auf der ganzen Fahrt, über mehrere Stunden hinweg, Rohkost verzerrt. Habe ich es mir nur eingebildet, dass sein Gesicht einen unerträglich blasierten Ausdruck hatte? Nein.

Er kaute bedächtig in selbstgefälliger Meditation. Nach der siebten Möhrrübe dachte ich, jetzt sei es genug, aber nach der siebten Mohrrübe hatte er noch nicht mal mit dem anderen Gemüse angefangen. Vom Obst ganz zu schweigen. Was kann man alles roh essen? Alles. Und er tat es. Und seine Familie tat es. Ein ganzer Bio-Bauernhof befand sich ungewürzt in ihrer Reiseprovianttasche.

"Schmeckt rohköstlich." Ein Schmunzeln und die anständigen Kinder freuten sich leise über den feinen Witz ihres Vaters.

Der Zufall wollte es, dass sich zugleich Menschen mit ganz anderen Essgewohnheiten und Umgangsformen im Abteil befanden: Zwei breit berlinernde Familien mit jeweils einem zehnjährigem Sohn. Es gab Zuckerriegel und Kaugummi für Jeremi und Damon und Wurststullen für die Erwachsenen. Getrunken wurde Cola. Die Eltern nahmen bei ihren, über Sitzreihen hinweg, geführten Gesprächen kein Blatt vor den Mund (und schon gar kein Salatblatt). Jeremi und Damon funkten laut dazwischen, freundeten sich an und unternahmen gemeinsame Expeditionen durch das Abteil.

Die Möhrenfamilie wahrte Contenance. Nicht mal die Kinder (im gleichen Alter wie Jeremi und Damon) ließen sich etwas anmerken. Sie mümmelten Broccoli und Sellerie und konversierten fade. Der Vater behielt seinen blasierten Gesichtsausdruck, bis sie wie auf Kommando aufstanden, die Jacken anzogen und ihre Koffer von der Ablage hievten. Zurück blieb ein Kohlrabischnitz, der dem einen Kind heruntergefallen war. Vielleicht hat das Kind den Schnitz auch extra fallen lassen. Man weiß nie, wann und wo die Rebellion anfängt.

Ich bin inzwischen überzeugt, dass dies keine gewöhnlichen Möhrenmenschen waren, sondern sogenannte Rohkost-Fundamentalisten. Diese Menschen kämpfen einen genau so irrsinnigen, wie blödsinnigen und ungesunden Kampf gegen die "Abhängigkeit von Gekochtem". Sie glauben, alles, was über 45 Grad erhitzt wurde, sei abgestorben und aller Nährstoffe beraubt. Davon halte sich fern, wer kann.

Möhrenmenschen hingegen sind harmlos. Ein wenig Möhrenmensch steckt in den meisten von uns.

Auf der Rückfahrt stieg eine Frau ein, vom Typ "Viel-unterwegs-immer-etwas-zu-sehr-in-Eile-auf-gesunde-Lebenshaltung-achtend-aber-in-letzter-Zeit-zu-wenig-Zeit-für-Sport-was-ihr-ein-schlechtes-Gewissen-verursacht. Sie haute sich auf die freie Bank neben der meinen und zog ein Magazin und ein Käsebrot aus ihrer Tasche.

Dabei gibt es zwei Dinge zu beachten.

Erstens: Das Brot war (natürlich) gesund, vollkornig, ballaststoffreich und zweitens: Jedes Prozent Fett im Käse muss vom Möhrenmenschen durch etwas Leichtes aufgewogen werden.
Also holte sie noch eine Tüte mit kleinen Möhrchen aus ihrer Tasche. Knack knack knack.

Ich habe nichts gegen Möhren oder andere Rohkost, ich esse selber Möhren, Äpfel, Schlangengurken, Paprika und weiß der Geier was. Jeder kann das machen und muss dennoch kein Möhren- oder Apfelmensch sein. Denn diese Menschen haben keine Wahl. Sie müssen es tun. Zwanghaft. Getrieben von einem Dämon, der ununterbrochen fragt: "Ist das auch gesund? Welche Vitamine, Mineralstoffe, Ballaststoffe? Wieviel Fett, Kohlenhydrate oder Eiweiß?" Und dergleichen mehr.

Das ist der Unterschied. Möhrenmenschen sind Gesundheitsstreber. Sie werden unweigerlich krank, wenn sie einmal nichts gesundes essen. Sie tröpfeln Öl mit der Pipette über ihre Tomaten. Sie salzen mit einem Messlöffelchen und bei jeder Nudel, die sie mit ihrer Gabel aufpieksen, fühlen sie sich verwegen, heldenhaft und sündig. Selbstverständlich essen sie dazu als Ausgleich einen gesunden Salat!

Ihre Kinder bekommen an Ostern Laktoseintoleranz statt Schokolade und zu Weihnachten eine Essstörung statt Braten.

Sie sind vollkommen überzeugt von ihrer Art, sich zu ernähren, und denken doch ständig, sie machten was falsch.

4 Kommentare:

Masterchief hat gesagt…

Nette Story:)
Ich kann übrigens gar nicht verstehen wie man überhaupt Rohkost essen kann. Aber dafür esse ich nur rohrköstlichen Rohrzucker. Was mir neu ist, daß das ein Dämon ist, der mir das befiehlt. Aber ich hatte schon immer so ein komisches Gefühl.
Nun denn, in diesem Sinne: Mahlzeit.

Masterchief hat gesagt…

Was soll eigentlich dieser Rollstuhlfahrer neben dem Captcha?
(das kleine Symbol meine ich, da wo man die Zahlen eingibt, damit der Kommentar veröffentlicht wird)

Unknown hat gesagt…

Herr Masterchief, Rohrzucker soll ja auch das Beste für die Zähne sein. Sie machen also bestimmt nichts falsch und ihn Ihrem Falle vertritt die innere Stimme nicht einen Dämon, sondern eine Zahnarzt-Sprechstundengehilfin, die es nur gut mit Ihnen meint.
Der Rollstuhlfahrer neben dem Captcha symbolisiert die Schnittigkeit meiner Beiträge...

Masterchief hat gesagt…

"Der Rollstuhlfahrer neben dem Captcha symbolisiert die Schnittigkeit meiner Beiträge... "

Ich schmeiß mich grade weg:):):)